Führungskräfte werden in der agilen Welt wertvoller als zuvor
Wie verändern agile Transformationsprozesse das Handeln in Unternehmen? Was bedeutet das für die Führungskräfte? Und welche Fertigkeiten sind unabdingbar, um in einer agilen Welt weiterhin bestehen zu können? Der VFF sprach mit Harald Wild*, Experte auf dem Gebiet der Agilität.
VFF: Herr Wild, können Sie bitte kurz umreißen, wie Agilität die Arbeitswelt verändert?
Harald Wild: Es ist ganz sinnvoll, wenn man hierzu bis zur Zeit vor der Industriellen Revolution ausholt, weil es hier bereits eine Phase gab, in der Eigenverantwortung und eigenständige Arbeit gelebt wurden, in der es viel Handwerk gab, in der viele ihr eigener Herr waren und selbst entschieden, wie sie ihre Produkte herstellen. Das Ganze ist dann in der Industriellen Revolution gekippt und mündete im Taylorismus, wo das Denken und Entscheiden vom Handeln komplett entkoppelt wurden: Das Management erledigte die Denkarbeit und übernahm strategische Tätigkeiten, darunter gab es die rein operativ Tätigen an den Fließbändern, die fortlaufend dieselbe Handlung ausführten. Sprich: Ein Minimum an Freiheit, dafür ein Maximum an Kontrolle – also sehr ausgeprägte Command-and-Controll-Strukturen. Mit der Agilität ist es nun so, dass - wahrscheinlich zum ersten Mal überhaupt - der Mitarbeiter ins Zentrum rückt. Zuvor hat man stattdessen immer versucht, die Menschen an Prozesse anzupassen - wenn diese optimiert wurden, mussten die Menschen gefälligst schneller arbeiten. Man hatte nie den Ansatz verfolgt, dass die Menschen selbst und eigenbestimmt den Weg zum Ziel finden und ihre Arbeitsprozesse definieren. Geschweige denn, sich die Frage zu stellen: Wie kann ich im Team am besten eigenverantwortlich und interdisziplinär funktionieren?
VFF: Wie genau kann man Agilität Ihrer Meinung nach am besten umsetzen?
Harald Wild: Zunächst einmal müssen agile Werte wie Vertrauen, Mut, Respekt, Verantwortung, Transparenz – um nur einige wenige zu nennen -, von jedem verinnerlicht werden. Es muss einem klar sein, dass man sich ständig hinterfragen und reflektieren muss. Das verändert natürlich auch die soziale Ebene in der Zusammenarbeit, ist aber dringend nötig, um eine Teamstruktur zu schaffen, die sich selbst steuern kann und sich als soziales Kollektiv empfindet. Jeder muss offen für Feedbacks und konstruktive Kritik durch die anderen sein. Nur so kann professionelle bzw. fachliche Kommunikation bzw. Austausch möglich sein. Menschen müssen also verstehen, dass sie sich auch selbst verändern müssen, um in einem sich selbst steuernden System ihren Beitrag leisten zu können.
VFF: Was muss sich denn neben dieser sozialen Komponente strukturell verändern?
Harald Wild: Wo es vorher verschiedene Abteilungen wie Einkauf, Rechnungswesen, Marketing etc. gab, werden im agilen Umfeld interdisziplinäre Teams gebildet, in denen alle Gruppen vertreten sind, die zum Abschluss einer Arbeit bzw. eines Projekts beitragen. Die einzelnen Teammitglieder müssen dabei sowohl über das nötige breite Wissen verfügen von dem, was die Gruppe als Ganzes tut, als auch über Expertenwissen, das in ihrer speziellen Sparte sehr tief gehen muss. Sprich: Der Blick für die Perspektive, gepaart mit dem nötigen Tiefgang muss bei jedem Einzelnen vorhanden sein. Man spricht hier auch von T-Shape. Ich vergleiche die netzwerkartigen Strukturen dieser Teams auch gerne mit einem Planetensystem im Gegensatz zu starren, hierarchischen Strukturen. Häufig benötigt aber ein Unternehmen sehr lange, um komplett in diese agilen Strukturen zu transformieren. Und: Das Fachwissen jedes Teammitglieds wiegt gleich – egal, ob Führungskraft oder nicht. Insofern kann jeder auch zeitweilig die Führung übernehmen – je nachdem, wer gerade den meisten Nutzen für das Team erzeugen kann.
VFF: Wenn jeder nun selbst Entscheidungen treffen kann und sich Teams selbst organisieren – müssen Führungskräfte dann um ihren Job bangen?
Harald Wild: Da sich über die Jahre in Firmen viele Management-Positionen angesammelt haben, die durch command and control das System gesteuert haben, ist es natürlich nicht auszuschließen, dass dort Stellen wegfallen. Im Allgemeinen übernehmen Führungskräfte aber andere Aufgaben und Funktionen. Traditionelle Managementmethoden müssen also hinterfragt und angepasst werden. In den autark agierenden Teams, die sich ihre Arbeit und Prozesse selbst strukturieren und weitgehend selbst entscheiden, ist eine direktiv eingreifende Führungskraft eher hinderlich: Wenn jemand von außen kommt, der meint, er wüsste es besser als das Team, stört er meist die selbst gewählte Teamstruktur. Es gibt daher nicht mehr die direktiven Führungskräfte, die jedem sagen, was er zu tun hat, sondern eher methodische Coaches, die aufgrund ihrer Erfahrung sehr wertvoll für das Team sein können. Sie können zeigen, wie man sich selbst methodisch strukturiert und weiterbringt, können Teammitgliedern Probleme abnehmen, die sie nicht eigenständig lösen können und sie entwickeln - also dem Team basierend auf den eigenen Erfahrungen helfen, sich selbst zu finden. Damit werden Führungskräfte wertvoller als vorher.
VFF: Welche Risiken sehen Sie bei agilen Transformationsprozessen?
Harald Wild: Die Chance zu scheitern ist definitiv immer gegeben. Das liegt aber auch daran, dass diejenigen, die die Entscheidungen treffen, entweder selbst nicht mit transformieren oder unsicher sind, weil sie meinen, ihren Job zu verlieren. Man muss Mitarbeitende wie auch Führungskräfte auf die neue Welt vorbereiten. Diese sind es oftmals nicht gewohnt, sich selbst und als Team zu strukturieren oder – im Falle der Mitarbeiter - eigenständige Entscheidungen zu treffen. Die Voraussetzungen sollten möglichst geschaffen werden, bevor das Unternehmen die digitale Transformation angeht. So minimiert man Unsicherheiten, die in der neuen, agilen Welt entstehen. Agiert der Arbeitgeber transparent und bereitet jeden Einzelnen ausreichend vor, erhöht dies die Offenheit für neue Methoden und das Vertrauen zum eigenen Unternehmen. Ganz wichtig ist auch, dass Führungskräfte ebenso stark in den Transformationsprozess einbezogen werden, um ihnen Verlustängste zu nehmen und ein Scheitern weniger wahrscheinlich zu machen. Das hat mit der Vorbildfunktion zu tun, aber auch mit Know-how. Wenn ich als Erster den Transformationsprozess durchlaufe, weiß ich, was auf die anderen zukommt und wie ich das Ganze steuern muss, um Ängste zu nehmen. Die Transformation sollte also immer top-down erfolgen.
VFF: Was fasziniert Sie selbst am Thema Agilität?
Harald Wild: Es ist immer schön, ein Umfeld zu schaffen, in dem Menschen sich entfalten und weiterentwickeln können, Vertrauen zu fördern und Menschen zu coachen. Die Erfahrung zu machen, dass Menschen wachsen, auf komfortable Weise ihre Komfortzone verlassen und dadurch Zugang zu ganz neuen, ungeahnten Möglichkeiten erhalten. Ich finde es sehr motivierend, das Arbeitsumfeld von allen Beteiligten zu verbessern. Wie sicherlich viele andere auch, habe ich mich dem Thema ursprünglich aus der Scrum- bzw. Framework-Ecke genähert, empfinde aber mittlerweile die soziale Komponente des Themas als größte Bereicherung, weil diese so vielfältig ist und keine Unternehmenstradition der anderen gleicht.
*Harald Wild ist Leiter IT beim Verband der Privaten Krankenversicherung e.V. und hat Zertifizierungen als Agile Business Coach, Scrummaster, Product Owner sowie Certified Agile Leadership von der Scrum Alliance. In diesem Zusammenhang spricht er bei internationalen Veranstaltungen wie der Business Agility Conference Vienna oder der BACon Greater China in Hong Kong.