'Gesund führen' – was bedeutet das?
Insbesondere in der jetzigen Zeit nehmen die Themen Gesundheit, Prävention und Gesunderhaltung eine besondere Bedeutung bei wohl jedem von uns ein. Aber was bedeutet es eigentlich, gesund zu führen? Antworten hierzu liefert Silke Grießhammer* im Interview mit dem VFF.
VFF: Frau Grießhammer, Sie setzen sich seit Jahren mit dem Thema ‚Gesunde Führung‘ auseinander – was bedeutet dieser Begriff für Sie?
Gesunde Führung heißt für mich, den Menschen stärker als Ganzes in den Fokus zu nehmen und dabei zeitgleich das Unternehmen bzw. unternehmerische Ziele auf der anderen Waagschale im Gleichgewicht zu halten. Nicht immer einfach und in Zeiten von Corona äußerst herausfordernd! Dazu zählt, dass man jeden Mitarbeitenden und dessen Lebensverhältnisse auch ein Stück kennen muss – manche pflegen ihre Eltern, kümmern sich alleinerziehend um ihre Kinder, verfolgen in ihrer Freizeit ein Ehrenamt oder ähnliches oder versuchen aktuell im Home Office den Balanceakt aller Aspekte. Als Führungskraft muss ich mit der Waagschale tagtäglich arbeiten, damit meine Mitarbeitenden motiviert sind und ihre Leistung bringen können. Mich selbst darf ich dabei als Führungskraft nicht vergessen, d. h. die Waage muss auch für mich selbst in Balance bleiben, indem ich regelmäßig eigene Energieressourcen sammle. Das Managen der Waage darf mich als Führungskraft also auf Dauer nicht selbst überfordern. Wenn Probleme mit nach Hause getragen werden, ist das nicht mehr konstruktiv und wird auf Dauer krank machen.
VFF: Die moderne Arbeitswelt ist ja einem permanenten Wandel unterworfen – welche Konsequenzen hat dies für eine gesunde Führung?
Richtig – grundsätzlich gilt: Hätten wir keinen Wandel, bräuchten wir keine Führung! In unserer heutigen Arbeitswelt hat sich das Wort Führung allerdings vor dem Hintergrund von Stichworten wie bspw. Agilität oder Kollaboration auch im täglichen Doing verändert bzw. es löst sich aus dem klassischen Bild der Pfeilspitze. Das muss ich beherrschen, um den Wandel zu managen und eben gesund zu führen. Die Komplexität von Aufgabenstellungen ist höher geworden, Rollen haben sich signifikant gewandelt (alleine schon die Aufweichung der klassischen Männer- und Frauenrollen), die Mitarbeitenden und ihre Qualifikationen haben einen anderen Stellenwert (verbunden mit höheren Ansprüchen an sich selbst, aber auch an die Führungskraft) etc. Für die Führungskraft von heute bedeutet das ein konsequentes Umdenken. Im Teamkontext vergleiche ich das auch gern mit dem Bild eines Fischschwarms: Ich als Führungskraft bin nicht mehr der Fisch, der vorneweg schwimmt – diese Rolle nimmt der jeweilige Mitarbeitende des Teams ein, dessen Expertise gerade am meisten gefragt ist und der dann im Sinne der Waagschale eingesetzt und gefordert werden kann. Die Basis für diese Neu- bzw. ständige Umverteilung der Rollen im Team ist gegenseitiges Vertrauen. Die Führungskraft muss das nötige Vertrauen in ihre Mitarbeitenden haben, um die Führungsrolle temporär aus den Händen geben zu können. Umgekehrt muss aber das Team auch das nötige Vertrauen in die Führungskraft haben, um verantwortungsvollere Aufgaben übernehmen zu können. Das hat natürlich unmittelbare Konsequenzen für den Umgang miteinander: Die Kommunikation verändert sich hinsichtlich der Art und Weise sowie der Inhalte. Eine direktive und bestimmende weicht einer befähigenden Kommunikation immer mehr. Diesen Wandel bestätigt auch seit mehr als 10 Jahren die Führungsforschung. Beispielsweise: „Wie schaffen wir das?“ statt „Ich weiß – Du musst“.
VFF: Wie sieht die konkrete Umsetzung von gesunder Führung im Alltag aus?
Die zentrale Frage sollte stets lauten: Wie können wir den Alltag ausgestalten, damit es Mensch und Zahlen gutgeht? Grundlage für die bestmögliche Beantwortung dieser Frage ist, dass die Führungskraft einen guten Kontakt zu den Mitarbeitenden pflegt. Wenn ich ehrlich und wahrhaftig, aber politisch korrekt, mit anderen umgehe, macht das auch etwas mit mir. Hierbei sollte ich als Führungskraft dem Mitarbeitenden meine Wahrnehmungen schildern und mich selbst differenzierter darstellen. Unter anderem kann dazu das Jahresgespräch genutzt werden, man sollte aber auch immer wieder zwischenzeitlich hieran anknüpfen.
VFF: Und was kann die Führungskraft für sich selbst tun?
Ganz ehrlich: Das wissen die meisten bei genauerem Nachdenken dann oft schon selbst. Jeder sollte regelmäßig prüfen, wie die eigenen 5 Energiespender „Bewegung“, „Entspannung“, „gesunde Ernährung“, „Hobbies“ und „angenehme soziale Kontakte“ aufgestellt sind. Es genügt, sich regelmäßig zu den 5 Bereichen eine Skalierung von 0-10 aufzumalen und anzukreuzen, wo man steht, was man ggf. verändern könnte und wie. Frech formuliert: Zu einer guten Führungskraft gehört eben auch, dass sie sich selbst managen kann. Man muss wissen, wo man Defizite hat, und kontinuierlich reflektieren, was davon verändert werden muss oder sollte, weil es nicht mehr gut oder sinnvoll ist.
VFF: Woran erkennt die Führungskraft, dass etwas mit einem Mitarbeitenden nicht stimmt?
In den meisten Fällen ziehen sich solche Mitarbeitenden zurück, verhalten sich anders als sonst, oftmals ist auch ein Leistungsabfall zu erkennen. Manche überfordern sich auch plötzlich selbst mit ihrer eigenen Arbeit. Meiner Einschätzung nach erkennt das die Führungskraft nur, wenn sie aufmerksam gegenüber anderen und selbstreflexiv ist.
*Silke Grießhammer (40) ist Dipl. Pädagogin (Univ.), Ökonomin (M.A.) und Business-Coach. Sie hat außerdem viele Jahre die Konzern-Personalentwicklung einer großen Unternehmensgruppe im Gesundheitswesen geleitet. Sie ist Mutter von zwei Kindern.