Transformationsprozesse beginnen bei jedem Einzelnen
Die Daimler AG rief in 2016 die konzernweite Initiative Leadership 2020 ins Leben. Der VFF sprach mit Dr. Frank Weber, Aufsichtsratsmitglied und Vorsitzender des Konzernsprecherausschusses, über das Projekt. Hier erläutert er unter anderem, warum ein Wandel der Führungskultur eigentlich nie endet und welche Schlüsse er aus dem Projekt bzgl. der zukünftigen Rolle von Führungskräften zieht.
VFF: Herr Dr. Weber, können Sie bitte kurz umreißen, worum es bei der Initiative Leadership 2020 geht bzw. warum diese nötig geworden war?
Der Ursprung von Leadership 2020 war die Frage, wie sich das Unternehmen zukunftsfähig aufstellt in dieser komplex gewordenen Welt. Wir waren und sind ein sehr erfolgreicher Automobilhersteller, vor allem im Premiumsegment, und das seit vielen Jahren. Aber wir haben gemerkt, dass sich die Welt schneller und dynamischer dreht und sich der Markt stark verändert. Es reicht einfach nicht mehr aus, dass wir das Automobil erfunden haben - was uns nach wie vor sehr stolz macht - und unsere Produkte durch Qualität, Sicherheit, Zuverlässigkeit, sicherlich auch durch Eleganz, Design und ein wenig Luxus brilliert haben. Wenn wir in dieser komplexen Welt die Zukunft gestalten wollen, müssen wir die notwendige Veränderung selbst in die Hand nehmen. Leadership 2020 beschreibt eine neue Führungskultur und ein neues Miteinander, was uns dabei Orientierung gibt. Die Initiative hat dabei ein entscheidendes Element: Sie bezieht alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter inklusive der Führungsebene ein. Jeder der weltweit rund 300.000 Mitarbeiter trägt Verantwortung für das Unternehmen.
VFF: Wie wurde das Projekt in 2016 aufgesetzt und wer war beteiligt?
Gestartet sind wir mit acht Gruppen mit je 18 Mitarbeitenden. Die Gruppen waren möglichst international zusammengesetzt und umfassten Mitarbeitende jeden Geschlechts, jeden Alters mit ganz unterschiedlichen Fähigkeiten, von allen Standorten und Divisionen und vor allem aller Hierarchieebenen. Jede dieser acht Gruppen hatte einen Vorstand als Pate. Die Zeitleiste war anspruchsvoll – das Projekt startete im Januar, und schon im Mai präsentierten jeweils zwei Mitglieder jeder Gruppe die Ergebnisse. Es entwickelte sich eine Dynamik, die ich so zuvor im Konzern noch nicht erlebt habe. Das lag sicherlich zum einen an dem Zeitdruck, zum anderen aber auch daran, dass die Gruppen hierarchiefrei und agil organisiert waren und sich relativ frei bewegen konnten. In den Gruppen haben wir schnell gespürt, wer welche Stärken einbringen kann. Schön war der große Zuspruch im Team. Ich habe keinen erlebt, der Zweifel an dem Projekt hatte.
VFF: Welche Ergebnisse haben die Gruppen erarbeitet und wie werden diese umgesetzt?
Wir haben acht Prinzipien herausgearbeitet, die als Stellhebel für den Kultur- bzw. Führungswandel fungieren: Sinn, Agilität, Befähigung, Wir wollen gewinnen, Pioniergeist, Lernen, Co-Kreation und Kundenorientierung. Ein hierfür gegründetes Base Camp unterstützt alle Aktivitäten. Hier arbeiten Kolleginnen und Kollegen verschiedener Unternehmensbereiche zusammen. Jetzt sind wir gemeinsam an der Umsetzung, bei der natürlich auch lokale Rahmenbedingungen und kulturelle Besonderheiten beachtet werden müssen. Um möglichst viel Transparenz zu schaffen, haben wir vor und während des Projektes im Intranet, in internationalen Workshops und vielen weiteren Veranstaltungen immer wieder informiert. Alle Mitarbeitenden waren eingeladen, sich einzubringen.
Viele Themen gingen direkt in die Umsetzung: Die Feedback-Kultur hat sich merklich verändert, Mitarbeiter wie Führungskräfte erhalten nicht mehr nur einmal jährlich Rückmeldung von ihrem Vorgesetzten, sondern auch spontan und unterjährig von Mitarbeitenden bzw. Kollegen oder Kooperationspartnern. Zudem haben wir Schwarm-Organisationen bei Daimler eingeführt, hier arbeiten Kollegen intensiv zusammen und kehren später wieder in ihre Linienfunktion zurück. Wir fördern Innovationen und haben alle Mitarbeiter aufgerufen, ihre Ideen im Lab1886 – unserem Innovationslabor - einzubringen. Wir müssen noch agiler und flexibler werden und nicht zu starr an Dingen festhalten, um noch schneller auf äußere Einwirkungen reagieren zu können.
VFF: Der Titel Leadership 2020 legt nahe, dass das Projekt im kommenden Jahr abgeschlossen sein wird – ist das tatsächlich der Fall?
Nein, denn eine Kulturveränderung kann kein Projekt mit Start- und Endpunkt sein. Ein Wandel braucht Zeit und Raum, um in die Organisation getragen zu werden. Insofern ist das Jahr 2020 allenfalls ein Etappenziel auf unserem Weg. Wir werden den Wandel weiter gestalten und uns weiter dafür engagieren. Wir wollen alle Menschen im Unternehmen erreichen, dies ist in einem so großen, globalen Unternehmen wahrscheinlich die größte Herausforderung. Auch hier sind die Base Camps gefragt, die die Kommunikation vorantreiben. Ganz wichtig sind natürlich auch die Führungskräfte. Diese haben sich viele Gedanken gemacht, was die entwickelten Prinzipien für ihren Bereich bedeuten und daraus eigene Projekte entwickelt, um die Mitarbeitenden mitzunehmen. Es fanden z. B. Schulungen für Meister statt, die dann gemeinsam mit ihren Teams überlegt haben, wie sie die Ergebnisse in ihrem Bereich anwenden können. Hier kommt es natürlich ganz stark auf das Engagement Einzelner an, die das Thema vorantreiben.
VFF: Es waren Mitarbeitende jeder Hierarchieebene beteiligt: Da mussten Vorstand und auch Führungskräfte loslassen können. Hat das funktioniert?
Ja, das hat es. Auch für den Vorstand war es anfangs sicherlich ungewohnt, aus den klassischen Strukturen auszubrechen und die Verantwortung einer neuen Führungskultur zu definieren und in die Hände von 144 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu legen, die das Beste für unser Unternehmen herausarbeiten. Dieses Ergebnis gilt es dann auch anzunehmen. Letztendlich wurden aber alle Ideen mit ganz wenigen Abweichungen, bei denen sich die Gruppen aber auch untereinander nicht ganz einig waren, verabschiedet um sie dann im Unternehmen umzusetzen. Dr. Dieter Zetsche wird häufig in Verbindung mit Leadership 2020 gebracht, aber bei uns steht der komplette Vorstand dahinter und hat bei zahlreichen Veranstaltungen deutlich gemacht, dass die Initiative ein wichtiger Bestandteil unseres Unternehmens ist und fortgeführt wird.
VFF: Würden Sie das Projekt heute nochmals starten – was würden Sie anders machen?
Ich persönlich würde mir in der Startphase noch mehr Zeit nehmen, den Kolleginnen und Kollegen noch klarer den Sinn vermitteln und sie so mitzunehmen. Es waren Führungskräfte am Projekt beteiligt, aber dies war eben nur ein geringer Prozentsatz. Die anderen fühlten sich teilweise nicht richtig abgeholt. Meine Erkenntnis ist: Die Führungskräfte sind trotz unserer starken Basis in der Mannschaft bei der Transformation der Schlüssel. Hier würde ich heute den Fokus noch mehr auf die Herausforderungen legen, die der Wandel für die Führung mit sich bringt.
VFF: Wie sieht aus Ihrer Erfahrung heraus die „Führungskraft 2020“ aus?
Wir müssen – und das hat mir Leadership 2020 einmal mehr bewusst gemacht – insbesondere das Thema Befähigung und Lernen in den Vordergrund stellen. Wir müssen uns als Führungskräfte zurücknehmen und Loslassen lernen. Wir müssen darauf vertrauen, dass wir die richtigen Menschen an die richtigen Stellen bekommen und dass wir sie entsprechend ihrer Stärken befähigen. Wir müssen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern also Raum und Orientierung geben und eher als Coach fungieren. Dieser Prozess führt auch oft dazu, dass man sich eingesteht, dass es Menschen gibt, die manche Dinge einfach besser können. Aus meiner Sicht ist die Veränderung der Organisation, in der wir uns befinden, zwangsläufig verbunden mit einer persönlichen Transformation. Ich spreche in dem Zusammenhang lieber von Transformation und nicht von Change-Prozessen bzw. einem Wandel – eine Transformation ist viel fundamentaler. Es wird entscheidend sein, wie ich mich persönlich einbringe und wie bereit ich bin, mich auf die Veränderungen einzulassen. Der Kunde steht im Fokus, und das gesamte Unternehmen und unser Handeln richtet sich konsequent an ihm aus – das bedeutet, dass wir andere Fähigkeiten und Formen der Zusammenarbeit brauchen als die, die wir in der Vergangenheit hatten.
Vielen Dank für dieses Interview, Herr Dr. Weber!